Prozesse und Regeln

Hinweisschild, das vor herabfallenden Ästen warnt.
Vorsicht Totholz

Eine Diskussion, die in letzter Zeit in meinem Team immer mal wieder aufkommt, ist die, wie wichtig Prozesse, Regeln und deren Einhaltung sind. Ich finde Prozesse und Regeln sehr wichtig. Ohne sie wäre es nicht möglich, ein wachsendes Unternehmen auf Spur zu halten. Trotzdem wünsche ich mir eine differenzierte Betrachtung des Themas. Warum? Lies weiter.

Modell

Prozesse und Regeln sind am Ende ein Modell, mit dem wir die Realität des Unternehmens abbilden und in eine bestimmte Richtung lenken wollen. Eine Eigenschaft von Modellen ist, dass sie nie die ganze Realität in ihrer vollen Komplexität erfassen können. Können wir also Regeln und Prozesse finden, die alles erfassen und jedes Detail regeln? Nein. Sollten wir es versuchen? Bloß nicht.

Es wird also immer Bereiche geben, die nicht bis ins Detail geregelt sind. Es wird auch immer Details in einzelnen Prozessen geben, die nicht erfasst sind. Damit gilt es einen Umgang zu finden. Stichwort konstruktive, kollaborative Problemlösung.

Starr vs. flexibel

In meiner Konstruktion von Wirklichkeit haben starre Prozesse und Regeln eher Nachteile. Keine Ausnahmen zuzulassen macht unflexibel. Außerdem beschneidet es Kreativität und behindert Innovation. Wenn immer alles auf die gleiche Art gemacht wird, kann nichts neues entstehen.

Das bezieht sich sowohl auf die Formulierung und Anzahl von Regeln, als auch auf deren Auslegung. Ganz klar ist, dass Gesetze befolgt werden müssen. Darüber hinaus sollte man sich genau überlegen, wie viele zusätzliche Regelungen es noch braucht. Jede Regel schränkt ein und erhöht die Komplexität. Es tauchen Abhängigkeiten auf, die man vielleicht gar nicht bedacht hat. Ein Beispiel: In der Fuhrparkrichtlinie ist der Gebrauch von Bluetooth-Freisprecheinrichtungen geregelt. Die IT-Richtlinie untersagt die Verwendung dieser am Firmenmobiltelefon. Und jetzt?

Wenn Regeln da sind, dann wird sich in einer Firma immer jemand finden, der sie starr anwendet und jemand, der es nicht so genau sieht. Wer von beiden hat Recht? Im Zweifelsfall hat der verloren, der sie lieber weniger starr anwenden möchte. Die Regel ist nun mal da. Der, der die festgeschriebene Anzahl der Homeofficetage überschreitet, ist erst mal im Unrecht und sorgt für Ungerechtigkeit. Auch wenn es aus Sicht dieser Person vielleicht keinen guten Grund für die Regel gibt.

Gründe für Regelverstöße

Wenn eine Person gegen eine Regel verstößt, dann ist es aus meiner Sicht gut, genau hinzuschauen, warum das passiert ist. Gerade dann, wenn ähnliche Regelverstöße oder Prozessabweichungen öfter vorkommen. Meistens ist es keine Böswilligkeit. Hier ein paar Fragen, die man sich stellen kann:

  • Ist es eine Person, die immer wieder abweicht, oder sind es unterschiedliche Personen? Diese Frage gibt einen Hinweis darauf, ob die Person oder die Regel das Problem ist.
  • Lässt die Regel oder der Prozess genug Spielraum, um in den meisten auftretenden Situationen zu funktionieren?
  • Ist die Regel so formuliert, dass sie verstanden wird? Nicht jeder ist fähig und willig jede Art der Formulierung nachzuvollziehen. Eine klare, einfache und kurze Formulierung sollte bei Regeln und Prozessbeschreibungen die Regel sein. 😉
  • Sind die Regeln für jeden und zu jeder Zeit einsehbar?
  • Ist es sinnvoll, die Regel, gegen die verstoßen wird, in dieser Situation anzuwenden?
  • Ist die Regel noch angemessen und aktuell? Vielleicht hat sie mal gut gepasst, passt aber nun nicht mehr. Regelmäßige Revision ist eine gute Idee.

Maschine oder soziales System

Eine Firma ist ein soziales System mit emergenten Eigenschaften. Keine Maschine, die man einfach programmieren kann. Ob Regeln in hohem Maß befolgt werden und ob Prozesse funktionieren, die am Reißbrett entstanden sind, lässt sich nur mit viel Erfahrung und genauer Kenntnis des Systems voraussagen. Und auch dann wird es Ausnahmen geben, bei denen die Vorhersage nicht zutrifft.

Darüber kann man sich ärgern. Man kann jede Prozessabweichung sanktionieren, Regelverstöße ahnden und wahnsinnig viel Aufwand in die Verfolgung stecken.

Oder man erkennt an, dass es sich eben um ein soziales System handelt, das nur bis zu einem gewissen Grad vorhersagbar ist. Aus meiner Sicht ist es Energieverschwendung, in jedem Fall auf die Einhaltung von Regeln zu pochen. Gerade dann, wenn es bei bestimmten Prozessen immer wieder zu Abweichungen und Regelverstößen kommt. Da scheint dann was am Prozess nicht zu passen, nicht am System.

Und selbst wenn Regeln irgendwo hervorragend funktionieren, muss das in einem anderen Kontext noch lange nicht zutreffen.

Unterschiede

Auch gibt es Unterschiede zwischen den einzelnen Elementen eines Systems. Die Buchhaltung oder der CISO werden wahrscheinlich eher darauf beharren, dass Regeln und Prozesse eingehalten werden. Bereichen, in denen viel Kreativität gefordert ist, ist das nicht so wichtig. Menschen mit hoher Affinität zu klarer Regelung arbeiten mit größerer Wahrscheinlichkeit in Jobs, in denen das gefordert wird.

Wie können wir mit diesen Unterschieden umgehen? Im ersten Schritt sollten wir anerkennen, dass sie existieren. Jeder Mensch hat ein unterschiedliches Wertesystem. Das bezieht sich auch auf die Befolgung von Regeln.

Im zweiten Schritt sollten wir die Unterschiede wertschätzen. Wir brauchen im Unternehmen Menschen, die sehr prozessorientiert arbeiten und ebenso brauchen wir welche, die kreativ und innovativ sind. Die Chaoten sollten selbstverständlich auch Regeln befolgen und sich in Prozesse einfügen. Aber genauso sollten die Prozessorientierten anerkennen, dass es nicht allen gleich leicht fällt und auch mal ein Auge zudrücken.

Hier gibt es bei uns auch eine kulturelle Komponente. Regeln und das Befolgen dieser hat einen hohen Stellenwert. Kreativität und Chaos eher nicht so. Der Ritter in der gut polierten Rüstung hat ein höheres Ansehen, als der Hofnarr und der Barde. Wir brauchen aber alle. Die letztgenannten haben es schon manchmal ein bisschen schwer bei uns. Das Betreten des Rasens ist verboten.

Reifegrad

Wie viele Regeln es gibt und wie strikt sie angewendet werden, hängt sicher auch vom Reifegrad der Organisation und der Mitarbeiter*innen ab. Startups sind nicht gerade für Überregulierung bekannt. Eher für Chaos. Wenn ein Unternehmen wächst und gedeiht, kommt irgendwann der Punkt, an dem man merkt, dass man mit “kurzen Wegen“ und wenigen Regeln mit der Skalierung an Grenzen stößt. Vielleicht passiert sogar ein Compliance-Verstoß, der die Unternehmensleitung aufschreckt. Dass viele Unternehmen in dieser Phase etwas über das Ziel hinausschießen und tendenziell zu Überregulierung neigen, ist wohl normal. Ich wünsche diesen Unternehmen jedenfalls, dass sie möglichst bald die Kurve kriegen. Wenn die Regeln und Prozesse erst mal da sind, wird man sie nämlich nur sehr schwer wieder los.

Es gilt also einen guten Mittelweg zu finden. So viele Regeln, wie sie der Branche und der Größe des Unternehmens angemessen sind, aber nicht so viele, dass sie alle Kreativität und Innovation im Keim ersticken.

Haltung

Ich bin überzeugt davon, dass man in einem Unternehmen mit hohem Reifegrad — das heißt auch mit fähigen, erfahrenen Mitarbeiter*innen — einige Regeln und Prozesse ersatzlos streichen kann. Durch eine professionelle Haltung und einige wenige Prinzipien, wird auch so nichts aus dem Ruder laufen und die Zusammenarbeit wird funktionieren. Nicht auf asphaltierten Straßen, aber auf emergenten Trampelpfaden.

Weitere Blogposts zum Thema

Im Blogpost Systemisch denken und führen ist der systemische Gedanke, der diesem Artikel zu Grunde liegt, ausführlich erklärt.

Der Artikel Alternativlosigkeit gibt vielleicht ein paar Hinweise darauf, warum Regeln nicht alternativlos sind.

Der Blogpost Ambiguitätstoleranz hilft dabei, zu verstehen, warum Ritter in glänzender Rüstung und Hofnarren gleich wertvolle Mitarbeiter*innen sind.

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