
In letzter Zeit wird mir immer klarer, was einer der Hauptgründe ist, warum die Entwicklung von Teams oder ganzen Organisationen zu mehr Selbstorganisation und Eigenverantwortung oft schwierig ist oder gar misslingt. Hierarchiedenken ist in vielen Unternehmenskulturen stark verwurzelt. Das ist erst mal nichts, was dem Erfolg grundsätzlich im Weg steht. Allerdings widerspricht es modernen Führungsparadigmen und außerdem meinen Werten und meinem Menschenbild. Im Folgenden will ich einige Gründe aufzeigen, warum wir Hierarchiedenken so schwer aus unseren Köpfen bekommen. Außerdem versuche ich ein paar Ansätze zu entwickeln, wie man dem entgegenwirken kann.
Wofür es gut war
In der Krise oder im Krieg gibt ein starker Anführer Sicherheit und Orientierung und kann schnell über Strategie und Taktik entscheiden. Zögern im Angesicht der Bedrohung oder des Feindes konnte man sich nicht erlauben. Beim Anführer laufen alle Informationen zusammen und er entscheidet, wie zu verfahren ist.
Die Kriege der vergangenen Jahrhunderte haben ihre Spuren in unserer Gesellschaft hinterlassen. So ist der starke Krieger bis heute ein Vorbild für viele. Das sieht man zum Beispiel an erfolgreichen Filmen und Spielen. Starke Anführer bewegen etwas in uns.
Eine hierarchische Organisation ist bei eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten von großem Vorteil. Die Verteilung von Informationen und Anweisungen erfolgt über die Befehlskette. Es ist nicht notwendig, dass der Anführer alle direkt erreichen kann.
Die Qualifikation von Anführern und einfachen Gefolgsleuten unterschied sich erheblich. Gute Ausbildung war nicht in der Breite verfügbar, so dass nur wenige Personen für Führungspositionen geeignet waren. Der große Teil einer Armee oder eines Unternehmens aus der Zeit der Industrialisierung bestand aus wenig qualifizierten Menschen.
Die bewährten militärischen Führungsstrukturen wurden auch für die Führung von Unternehmen übernommen. Die militärische Denkweise hat sich gleich mit eingeschlichen. Strategie, Taktik, der Mitbewerber als Gegner, der Markt als Schlachtfeld, „Battlecards“ zur Gesprächsvorbereitung, Sunzi und Clausewitz als Pflichtlektüre.
Der Umgang mit Sprache war ein anderer. Man sehnte sich nach Wahrheiten und Gewissheit. Das führt zum Gebrauch statischer Sprache. Der Anführer sagt, was gut, was schlecht, was wahr und was falsch ist. Dass es keine absolute Wahrheit und Gewissheit geben kann, war nicht anerkannt und ist es bis heute nicht überall. So viel ist sicher 😉.
Wenn man gut mit einem Hammer umgehen kann, sieht jedes Problem aus wie ein Nagel. Wenn man gut mit einem Gewehr umgehen kann, sieht jedes Problem aus wie… Naja, im besten Fall wie ein Wildschwein.🐗
Warum es jetzt nicht mehr gut ist
Inzwischen haben sich die Rahmenbedingungen geändert.
Kommunikation ist einfach geworden. Wir haben sehr gute Mittel, um alle Mitarbeiter zu erreichen und auch die Führungskräfte können leicht erreicht werden. Wenn wir alle Möglichkeiten nutzen, die uns zur Verfügung stehen, hat die Befehlskette in ihrer alten Form ausgedient. Nochmal zur Klarstellung: Damit meine ich nicht, dass Führungskräfte nicht mehr benötigt werden.
Die Komplexität steigt. Dass Einzelpersonen ein Unternehmen oder auch nur einen Bereich in allen Aspekten überblicken und in jedem Fall entscheidungsfähig sind, halte ich für extrem unwahrscheinlich. Wer die Aufgaben teilt und die Experten nicht nur einbezieht sondern befähigt, frei zu agieren, der ist auf einem erfolgsversprechenden Weg.
Entscheidungsvorlage: Pfui, Entscheidung: Hui. Das gute alte Subsidiaritätsprinzip.
Zum Glück sind Wissen und Bildung leicht(er) verfügbar. Viele Menschen erreichen eine hohe Qualifikation. Auch sind in vielen Unternehmen nicht mehr viele Jobs für Personen mit geringerer Qualifikation anzutreffen. Der Großteil der Industriejobs ist schon lange aus Mitteleuropa verschwunden.
Auch unser Menschenbild ändert sich. Es setzt sich die Überzeugung durch, dass jeder Mensch einen hohen Wert hat und an der richtigen Stelle sein/ihr Potential entfalten kann.
Im Hierarchiedenken finden wir ein Muster vor, das sich hartnäckig in unseren Köpfen hält. Es ist überholt und langsam aber sicher auf dem Rückzug.
Das ist sicher auch eine Generationenfrage. Man kann in vielen Fällen einen Unterschied im Selbstorganisations-Reifegrad zwischen neu gegründeten Unternehmen feststellen, die von Mitgliedern der Generation Y oder Z geführt werden und solchen, die schon länger bestehen und/oder von Baby Boomern oder Generation X geführt werden.
Was gut ist und wie wir dorthin kommen können
Ich träume von einer Arbeitswelt, in der die Aufgaben und die Verantwortung so verteilt sind, dass jeder das tut, was er am besten kann. In der Führung eine Aufgabe ist, wie jede andere und in der wirklich auf Augenhöhe zusammengearbeitet wird.
Die Führungskraft ermöglicht Selbstorganisation. Die Mitarbeiter entscheiden, die Führungskraft sorgt für die notwendigen Ressourcen, unterstützt das Team bei der Weiterentwicklung und steuert gegebenenfalls Wissen zum Umfeld und zur Organisation der Aufgaben bei.
Ziele und Vision sollten kein Herrschaftswissen sein, sondern ins Team getragen werden, damit alle Teammitglieder Entscheidungen treffen können, die dem Ziel zuträglich sind. Optimalerweise sind alle bei der Erstellung der Ziele mit eingebunden. Das fördert die Identifikation mit den Zielen.
Verantwortung für Entscheidungen
Stichwort „Grad der Delegation“. Wer ist denn nun verantwortlich wofür? Ist der Mitarbeiter nur dafür verantwortlich, wie er seinen Kaffee trinkt? Und wenn die Führungskraft schon zugibt, dass sie nicht alles in ihrem Bereich überblickt, muss sie dann in jeder Entscheidung ihre Finger drin haben?
Entscheidungen sind oft ein Flaschenhals. Alles muss irgendjemandem vorgelegt werden. Jemand ist aber nicht immer verfügbar oder hat so viele Entscheidungen auf dem Tisch, dass er nicht hinterherkommt.
Je mehr Entscheidungen nicht zentral getroffen werden müssen, je höher der Grad der Selbstorganisation ist, desto mehr Geschwindigkeit kann hier gewonnen werden.
Um herauszufinden, welche Dinge von wem entschieden werden können, empfehle ich eine Runde „Delegation Poker“. Damit lässt sich schnell klären, ob die Führungskraft oder das Team entscheidet. Wenn das Team einen sehr hohen Grad an Selbstorganisation erreicht hat, wird das Spiel langweilig. Dann sind einfach alle Entscheidungen beim Team.
Kommunikation
Dass die Kommunikation zwischen den Mitgliedern eines Teams (inklusive Führungskraft) funktioniert ist sehr wichtig. Dabei sind alle Kommunikationskanäle zu betrachten. Welche Tools kommen zum Einsatz? Wie ist die Meetingstruktur aufgebaut? Haben die Teammitglieder genug Möglichkeiten zum Austausch?
Fehlender Austausch führt zu Silobildung. In ganzen Organisationen, aber auch in Teilorganisationen. Jede*r sollte mit jede*r*m reden und auch informellen Austausch pflegen. Ein hoher Grad der Vernetzung ist ein Erfolgsfaktor für gelingende Selbstorganisation.
Vielfalt
Vielfalt zahlt sich aus. Frisches Wissen und Erfahrung, weiblicher und männlicher Blickwinkel, Mitarbeiter*innen mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund, Akademiker, Quereinsteiger, unterschiedliche Persönlichkeitsstile, Menschen mit Behinderung. Alle bereichern die Zusammenarbeit und verbessern durch unterschiedliche Blickwinkel die Fähigkeit, gute Entscheidungen zu treffen. Wer nur Personen einstellt, die ihm ähnlich sind, der fördert Stagnation.
Geduld
Etwas, was mir selbst schwer fällt, ist Geduld zu haben. Ein Unternehmen, ein Team, eine Führungskraft, die mit Hierarchiedenken groß geworden sind, bekommen das nicht von heute auf morgen aus ihren Köpfen. Ein Thema, das in unserer Gesellschaft so fest verwurzelt ist und von dem nicht ansatzweise alle denken, dass es ein Problem darstellt, wird nicht plötzlich verschwinden.
Ich bin überzeugt davon, dass es gut ist, auf Augenhöhe zusammenzuarbeiten. Ich bin gespannt, wie die Entwicklung weitergeht und ob sich die Tendenz zu mehr Selbstorganisation und Verantwortungsdelegation durchsetzt.