Gerechtigkeit

Figurengruppe auf dem Münchner Justizpalast
Justitia

Vor ein paar Tagen fiel im Gespräch mit einem Kollegen das Wort Gerechtigkeit. Das hat mich etwas zum Nachdenken gebracht. Gerechtigkeit ist höchst erstrebenswert und Unternehmen, die es damit allzu ungenau nehmen, handeln sich Unzufriedenheit, eine hohe Mitarbeiterfluktuation und juristische Probleme ein. Allerdings gehen die Vorstellungen, was Gerechtigkeit überhaupt ist, offenbar ziemlich auseinander. Ich bin kein Philosoph oder Jurist, aber ich habe eine Vorstellung davon, was Gerechtigkeit — insbesondere im Führungs- und Businesskontext — für mich bedeutet.

Kurz gesagt bedeutet Gerechtigkeit für mich, jedem Menschen (möglichst) gerecht zu werden.

Gerechtigkeit ist subjektiv

Das Problem mit der Gerechtigkeit ist, dass sie oft nicht so einfach objektiv bewertbar ist. Was Du als gerecht empfindest, muss ich noch lange nicht so sehen. Ein paar Beispiele. Zuerst eines, das allen Eltern trivial erscheinen mag, aber sehr gut verdeutlicht was ich meine.

  • Aus Sicht meiner zweieinhalbjährigen Tochter ist es echt ungerecht, dass mein fünfjähriger Sohn “Die Sendung mit der Maus“ schauen darf und sie nicht. Außerdem darf der Große hin und wieder Nutella auf seine Semmel schmieren. Sie nicht. Total ungerecht. Was denken sich die Eltern da nur dabei?
  • Ein Linienbus, besetzt mit Fahrer und drei Fahrgästen nähert sich einer Ampel. Der Bus hat einen Sender für eine Vorrangschaltung. Die Ampel bleibt für ihn grün. Der Bus fährt langsam. Die Strecke bis zur Ampel ist noch recht weit. Eigentlich wäre die Ampel schon lange rot. An der Ampel warten sieben Fußgänger und vier Radfahrer, die gerne die Straße überqueren würden. Ist es gerecht, dass der Bus Vorrang genießt und die Wartenden Zeit verlieren, obwohl sie in der Überzahl und noch besser für die Klimabilanz sind?
  • In einer Firma, die Elektronikkomponenten entwickelt und herstellt gibt es eine Betriebsvereinbarung. Diese besagt, dass die gesamte Belegschaft um 10:00 Uhr eine fünfzehnminütige Pause einzulegen hat. Diese Pause wird vom Zeiterfassungssystem automatisch von der Arbeitszeit abgezogen. Die Mitarbeiter*innen in der Produktion finden das super, da ihre Arbeit auch körperlich belastend ist und sie die Pause dringend benötigen. Ein Entwicklungsingenieur (Mitte 30, zwei kleine Kinder) ist von dieser Betriebsvereinbarung massiv genervt. Er sitzt am Schreibtisch und könnte locker bis Mittag durcharbeiten — was er meistens auch macht, um seine produktivste Zeit nutzen zu können. Die Pause wird ihm trotzdem abgezogen. Sie belastet sein Familienleben, da er durch sie am Nachmittag eine S-Bahn (40 Minuten Takt) später nehmen muss und so deutlich weniger Zeit für seine Familie hat. Die Betriebsvereinbarung ist für alle gleich, aber ist sie gerecht?

Im Unternehmen

Arbeitszeitregelungen, Gehälter, sonstige Lohnbestandteile, Arbeitsmittel. Es gibt so viele Möglichkeiten für Ungerechtigkeit zu sorgen.

Bewusstes Herbeiführen von „Ungerechtigkeit“

Voll super, dass Elektromobilität und die öffentlichen Verkehrsmittel gefördert werden. Manche gehen dabei aber leer aus. Wer gute Gründe hat, mit dem (Benzin- oder gar Diesel-)Auto in die Arbeit zu fahren, kann mit Tickets für den ÖPNV, einer Wallbox, Ladesäulen in der Tiefgarage oder einem E-Bike halt nichts anfangen.

Ist es deswegen falsch, Maßnahmen zu ergreifen, die manche für unfair halten? Aus meiner Sicht nicht. Ein Unternehmen entscheidet sich, ein Ungleichgewicht herbeizuführen, um ein Ziel zu erreichen. Nämlich in diesem Fall die Verbesserung der Klimabilanz. Es werden die Mitarbeiter*innen belohnt, die etwas zu dem Ziel beitragen. Die anderen gehen leer aus. Einige von ihnen werden das Vorgehen als ungerecht empfinden.

Gehalt

Ein ewiges Thema ist auch die Gehaltsgerechtigkeit. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Daran führt aus meiner Sicht kein Weg vorbei. Aber wie gelingt es, die Arbeit objektiv zu bewerten? Wieviel ist die Treue zum Unternehmen wert? Spielt das Lebensalter eine Rolle? Der Studienabschluss? Die Schuhgröße? Wie verhindert man, dass Personen, die neu dazukommen mit einem höheren Gehalt einsteigen, als die treuen Mitarbeiter? Sollten Führungskräfte mehr verdienen als Fachexperten? Ist Expertise mehr Wert oder Verantwortungsübernahme? Wie geht man mit Personen um, die längere Zeit in Elternzeit waren?

Nun kann man natürlich Bewertungssysteme einführen und alle Kriterien aufschreiben, um nach Möglichkeit alle gerecht zu behandeln. Führt das zu absoluter Gerechtigkeit? Aus meiner Sicht nicht. Es wird immer jemand durch das Raster fallen.

Nehmen wir an, der Studienabschluss fließt in die Bewertung ein. Nun arbeiten zwei Mitarbeiter*innen im selben Team. Beide erledigen ähnliche Aufgaben und sind in etwa gleich alt. Eine*r hat eine Ausbildung mit exzellentem Abschluss und außerdem vier Jahre Berufserfahrung, die der zweiten Person fehlen. Die zweite Person hat studiert, ist aber unmotiviert und macht nur das nötigste, um nicht allzu unangenehm aufzufallen. Die Person, die studiert hat, verdient 5000€ mehr im Jahr. Ohne sie zu verdienen, meint die Person, die „nur“ eine Ausbildung genossen hat. Aber die Gehaltseinstufung ist doch für alle gleich. Also gerecht. Oder?

Sonstige Vergünstigungen

Arbeitszeiten, Dienstwagen, Einzelbüro. Eigentlich kommt es auf dasselbe heraus wie beim Gehalt. Wieso bekommt er … und ich nicht? Warum hat sie … und ich nicht? Es gibt immer Gründe. Aber oft keine, die die Person, die sich ungerecht behandelt fühlt, akzeptieren kann.

Der Versuch, Gerechtigkeit herzustellen

Als Führungskraft steht man, bei dem Versuch Gerechtigkeit herzustellen, aus meiner Sicht vor zwei Herausforderungen:

  • Objektivität ist nicht möglich
  • Man muss permanent nachjustieren

Sollte man deshalb aufgeben und alle Versuche einstellen? Nein. Das ist eine der Ambiguitäten, die man als Führungskraft aushalten muss. Wenn Du Dir Mühe gibst, Dein Sinn für Gerechtigkeit funktioniert und zu dem Deiner Mitarbeiter*innen kompatibel ist, dann ist es möglich, dafür zu sorgen, dass ein Großteil meistens zufrieden ist.

Was dafür nötig ist, ist ein gewisser Spielraum, der es ermöglicht allen gerecht zu werden. Wenn man dazu gezwungen wird, alle über einen Kamm zu scheren, wird es bedeutend schwieriger.

Allen zu jedem Zeitpunkt gerecht zu werden ist aber schlicht und ergreifend nicht möglich.

Wenn man außerdem dazu bereit ist, selbst mit gutem Beispiel voranzugehen und auf Vergünstigungen verzichtet oder sie teilt, dann hat man noch bessere Chancen, das Gerechtigkeitsempfinden im Team zu stärken.

Und jetzt entschuldige mich bitte. Ich muss mir eben einen Champagner in der Executive Lounge holen.

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